Das erste Mal hörte ich davon in einem Buch über die Entwicklung einer gesunden Darmflora: Vaginal Seeding nach einem Kaiserschnitt. Dieser neue Geburtstrend ist in englischsprachigen Ländern wie den USA, Großbritannien oder Australien bereits sehr gefragt. Und auch in Deutschland steigt die Nachfrage und immer mehr Geburtskliniken bieten diesen Service an.
Obwohl Mediziner in Deutschland skeptisch sind und dazu raten, langfristige klinische Studien abzuwarten, klingt diese Form der Bakteriendusche für Neugeborene zumindest vielversprechend. Bei einer Kaiserschnittgeburt eines Kindes würde ich dieses Vorgehen darum auf jeden Fall im Hinterkopf behalten.
Vaginal Seeding wird auch als Vaginale Impfung bezeichnet. Es handelt sich dabei aber nicht um Antikörper und es wird auch keine Spritze verabreicht.
Direkt nach der Kaiserschnitt-Geburt werden Vaginal-Bakterien aus dem Scheidensekret der Mutter über das Neugeborene “ausgesät” (getupft), damit das Kind mit den Mikrobiotika in Kontakt kommt.
Themen des Beitrags
Der Hintergrund: Darum brauchen Kinder nach Kaiserschnitt Vaginalbakterien
Während der Zeit im Mutterleib besteht der Mensch zu 100% aus menschlichen Zellen, er ist also völlig keimfrei. Diesen Zustand gibt es danach nie wieder im Leben, denn im Moment der Geburt beginnt eine lebenslange Besiedelung des Körpers mit Mikroben, d.h. überwiegend Bakterien.
Zu etwa 90% besteht der Mensch aus Mikroben. Die Gesamtheit dieser Bakterienkolonien nennt man Mikrobiom. Das Mikrobiom des Menschen unterliegt, genau wie unsere DNA, einer Evolution und wird jeweils von der Mutter an die Kinder weitergegeben. Das bedeutet, dass über die Jahrtausende die Menschen mit einem nützlichen, gesundheitsfördernden Mikrobiom, einen Überlebensvorteil hatten und die Bakterienzusammensetzung dadurch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit weitergegeben wurde.
Im Moment der Geburt kommt ein Baby also erstmals mit Bakterien in Kontakt, die dann sofort beginnen, Haut, Augen und den Verdauungstrakt zu besiedeln. Dabei haben diejenigen Bakterien einen Vorteil, die als erstes ankommen. Sie können sich völlig konkurrenzlos im neuen Lebensraum vermehren und dadurch Spätankömmlingen den Rang ablaufen.
…in Industrieländern fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt auf die Welt kommt.
Natürlich geborene Babys kommen zu allererst in Kontakt mit Vaginalsekret und – vorausgesetzt das Baby liegt richtig herum – auch mit einer kleinen Menge Darmbakterien aus dem Anus. Das sind vor allem Lactobacillen und Bacteroiden.
Bei einem Kaiserschnitt wird das Baby allerdings vorher aus dem Bauch der Mutter geholt und durchläuft nicht den Geburtskanal. Die ersten Bakterien auf der Haut des Neugeborenen sind dann Hautbakterien der Eltern sowie alle möglichen Keime aus dem OP. Die Vaginalbakterien, die denen aus dem Darm der Mutter stark ähneln, fehlen.
Was ist Vaginal Seeding?
Beim “Vaginal Seeding” (übersetzt “Vaginales Säen”) wird der fehlende Kontakt mit der Vaginalschleimhaut im Geburtskanal und den damit verbundenen Bakterien behoben, indem das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt mit Vaginalsekret der Mutter betupft wird. Das Ziel und der Zweck dabei ist, mütterliche vaginale Bakterien auf das Baby zu übertragen.
Wie funktioniert Vaginal Seeding?
Einige Zeit vor dem Kaiserschnitt wird ein mit steriler Kochsalzlösung betupftes Mulltuch oder ein großer Tupfer in die Vagina der Mutter eingeführt. Unmittelbar nach der Geburt wird er entfernt und das Baby damit an mehreren Stellen betupft. Außerdem werden ein paar Tropfen in die Augen und den Mund geträufelt.
Was soll Vaginal Seeding bewirken?
Dadurch soll die ordnungsgemäße Kolonialisierung des kindlichen Darms nach einem Kaiserschnitt sichergestellt und das nachfolgende Risiko für Asthma-Erkrankungen, atopische Erkrankung und Immunstörungen verringert werden.
Macht diese Maßnahme überhaupt Sinn?
Beim Vaginal Seeding wird künstlich nachgeholt, was sonst auf natürlichem Weg passiert. Ob dieser Vorgang 1:1 ersetzt, was sonst die natürliche Geburt bietet, kann derzeit niemand sagen. Denn immerhin soll hier innerhalb weniger Augenblicke ein Vorgang nachgeahmt werden, der sonst bis zu mehreren Stunden dauert. Deutschen Geburtskliniken, die Vaginal Seeding anbieten, wird deshalb häufig vorgeworfen, dies als reine Marketingmaßnahme zu tun.
Neugeborene Kaiserschnitt-Kinder haben durch die Vaginale Impfung ein besseres Immun-System
Allerdings weisen erste veröffentlichte Forschungsergebnisse der University of New York darauf hin, dass Vaginal Seeding seinen Zweck nicht verfehlt: In einer noch laufenden Studie wurde die Darmflora von Babys untersucht, die entweder natürlich oder per Kaiserschnitt geboren wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Darmflora von Kaiserschnitt-Babys mit Vaginal Seeding der von natürlich geborenen Babys entspricht.
Kinder durch Kaiserschnitt-Geburten leiden öfter an Infektionen
Kaiserschnittkinder ohne Vaginal Seeding dagegen haben eine Darmflora, die in ihrer Bakterienzusammensetzung der Haut eines Menschen gleicht. Sie brauchen etwa drei Monate länger, um eine gesunde Darmflora aufzubauen und haben unter anderem dadurch ein erhöhtes Risiko, dass in diesem Prozess etwas schief geht. Statistisch gesehen leider Kaiserschnittkinder häufiger unter:
- Adipositas
- Typ-1-Diabetes
- Allergien
- Asthma
- Adipositas
Ist Vaginal Seeding gefährlich?
Trotzdem spricht sich das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) gegen eine generelle Anwendung des Vaginal Seeding bei Kaiserschnitten aus. Auch die meisten deutschen Mediziner sind dem neuen Trend gegenüber skeptisch. Denn bisher liegt keine abgeschlossene klinische Studie zu Gefahren und Nutzen der Methode vor.
Die Handlungsempfehlung lautet darum, weitere Forschungsergebnisse, die sich derzeit in Arbeit befinden, abzuwarten. Wenn Frauen trotzdem auf Anwenden der Methode bestünden, sollten sie ausreichend über die Risiken und fehlende Datenlage aufgeklärt werden.
Deutsche Ärzte warnen vor allem vor einer möglichen Infektion mit Krankheitserregern wie B-Strepptokokken, Herpes, HIV oder Chlamydien aus dem Vaginaltrakt der Mutter. Während der Fakt natürlich unbestreitlich ist, dass sich dadurch auch Krankheiten übertragen können, finde ich das Argument mehr als fadenscheinig. Denn dann müssten die Mediziner aus demselben Grund auch von natürlichen Geburten abraten. Denn auch hier kann sich das Neugeborene infizieren, wenn die Mutter ansteckende Keime im Vaginaltrakt hat.
Vielmehr sollten Mediziner vor der Anwendung von Vaginal Seeding (und vor einer möglichen natürlichen Geburt!) Frauen dazu raten, sich auf entsprechende Keime testen und gegebenenfalls behandeln zu lassen.
Eine weitere Kritik am Vaginal Seeding lautet, dass diese Methode Mütter dazu ermutige, einen Wunschkaiserschnitt durchführen zu lassen. Denn für die Darmflora sei es dann möglicherweise nicht mehr ausschlaggebend, natürlich zu entbinden.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die eine oder andere Mutter aus diesem Grund für einen Kaiserschnitt statt einer natürlichen Geburt entscheidet, rechtfertigt das nicht, den Babys diese Möglichkeit vorzuenthalten. Denn ein Baby für die Entscheidung seiner Mutter zu strafen macht absolut keinen Sinn.
Vielmehr sollte man sich damit beschäftigen, wie man das Vaginal Seeding auch für Not-Kaiserschnitte verwirklichen kann, d.h. ob es zum Beispiel Sinn macht, mit allen Müttern vorab über das Thema zu sprechen und dann vorsorglich einen Tupfer einzuführen.
Kotübertragung statt Vaginal Seeding
Im Oktober 2020 veröffentlichte Studienergebnisse aus Finnland bestätigen gute Ergebnisse mit einer Kotübertragung nach einem Kaiserschnitt. Dazu wurde vor der Geburt eine Stuhlprobe der Mutter auf schädliche Keime untersucht und dann eine mit Muttermilch verdünnte Kotprobe der Mutter gefüttert. Dieses Vorgehen führte bei den Versuchspersonen zu einer gesünderen Darmbesiedelung als bei Kaiserschnitt-Kindern ohne Kotübertragung.
Fazit: Ich würde es tun
Auch wenn viele Experten also aus Sicherheitsgründen abraten, würden mir persönlich die Argumente dagegen nicht ausreichen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Vaginal Seeding meinem Kind hilft, eine gesunde Darmflora aufzubauen, die ihm ein Leben lang weiter hilft, ist in meinen Augen sehr hoch. Auch die Autoren des oben erwähnten Buches “Der gute Darm”, Dr. und Dr. Sonnenburg, raten zu dieser Methode bei einem Kaiserschnitt.
Die neuesten Erkenntnisse der Darmflora-Forschung, die die beiden in ihrem Buch beschreiben, legen nahe, dass eine identische Besiedlung der Darmflora auch ein identisches Ergebnis in Sachen Gesundheit und Lebensqualität bietet.
Das heißt, wenn es durch Vaginal Seeding gelingt, dieselbe Darmflora herzustellen, wie bei einer natürlichen Geburt, dann sind die gesundheitlichen Nachteile, unter denen Kaiserschnittbabys nachweislich leiden, behoben.
Und dass Vaginal Seeding die Darmflora auf denselben Stand bringt, wie eine natürliche Geburt, belegen erste Ergebnisse der New York University.
Natürlich ist die Methode am sichersten, wenn sie in klinischen Tests bestätigt wurde. Vielleicht macht es auch einen Unterschied, an welchen Stellen und wie oft ein Baby betupft wird. Allerdings sprechen wir hier im Zweifelsfall nicht über irgendwelche abstrakten Behandlungsmethoden, auf die man auch mal ein paar Jahre warten kann.
Als Mutter musst Du im Zweifel eine Entscheidung treffen. Nämlich ob Du jetzt Dein Baby nach einem Kaiserschnitt der Bakteriendusche aussetzen möchtest, oder nicht.
In ein paar Jahren, wenn die klinischen Ergebnisse vorliegen, wird es Deinem Baby nichts mehr nutzen.
Alternativen für eine gesunde Darmflora
Wenn Du Dein Baby bereits per Kaiserschnitt entbunden hast, ohne dass es danach mit Vaginalsekret bestrichen wurde, ist das übrigens kein Grund zur übertriebenen Sorge. Der Kontakt mit dem mütterlichen Mikrobiom ist nur einer der Faktoren, die zu einer gesunden Darmflora beitragen. In den Monaten unmittelbar nach der Geburt, kannst Du durch möglichst viel Stillen dazu beitragen, dass weitere Darmbakterien übertragen werden und die richtigen sich langfristig im Darm Deines Babys ansiedeln. Und auch hier gilt kein Alles-Oder-Nichts-Prinzip. Je mehr Muttermilch Du Deinem Baby anbieten kannst, desto besser. Wenn Du selbst nicht stillen kannst, kannst Du in bestimmten Fällen auf eine Muttermilch-Bank im Krankenhaus zurückgreifen.
Wie Du die Darmflora Deines Kindes weiterhin unterstützt, erfährst Du in meinem Beitrag zum Thema “Darmflora aufbauen beim Kind”.
Quellen und Literaturhinweise:
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Partial restoration of the microbiota of cesarean-born infants via vaginal microbial transfer: Dominguez/Bello 2016:
In: DOI 10.1038/nm.4039
unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5062956/ - American College of Obstetricians and Gynecologists: Vaginal seeding.
unter: https://www.acog.org/Clinical-Guidance-and-Publications/Committee-Opinions/Committee-on-Obstetric-Practice/Vaginal-Seeding -
Study provides evidence that “vaginal seeding” of infants born by caesarean partially restores microbiota: Cunnington 2016: In: BMJ 2016;352:i1737
unter: https://www.bmj.com/content/352/bmj.i1737 -
Shortchanging a Baby’s Microbiome. C-sections and formula feeding could be interfering with a critical biological process: Harman 2017
unter: https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/shortchanging-a-babys-microbiome/ - Vaginales Impfen für Kaiserschnitt-Kinder (Pharmazeutische Zeitung Online)
unter: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=62321 - Nine Cohort studies showing consistency of low abundance of Bacteroides for babies born by C-section: Jakobsson et al. 2014, Azad et al. 2016, Hesla et al. 2014, Backhed et al. 2015, Penders et al. 2013, Madan et al. 2016, Dogra et al. 2015, Martin et al. 2016, Yassour, et al. 2016
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Der gute Darm: Was er wirklich braucht, um uns gesund zu erhalten. Das Neueste aus der Mikrobiom-Forschung: Sonnenburg 2016: Südwest Verlag
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„Maternal Fecal Microbiota Transplantation in Cesarean-Born Infants Rapidly Restores Normal Gut Microbial Development: A Proof-of-Concept“, Katri Korpela et al.; Cell, DOI: 10.1016/j.cell.2020.08.047
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