Hochsensibilität ist keine Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, wie ich bereits in meinem Artikel über “Hochsensible Kinder verstehen” schon erklärt habe. Ihr bestimmendes Merkmal ist die Reizverarbeitung, die sich deutlich von der nicht-hochsensibler Menschen unterscheidet. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Ausprägungen: während die meisten Hochsensiblen introvertiert sind, ist ein deutlich geringerer Prozentsatz extrovertiert.
Wir haben alle beide Anteile in uns, auch die Menschen mit ausgeprägter Hochsensibilität. Es gibt keine scharfen Trennlinien und in der Regel hat auch ein introvertierter Mensch Zeiten, in denen er gerne mit anderen Menschen zusammen ist, während der extrovertierte Ruhephasen braucht.
Zum besseren Verständnis zeige ich im Folgenden die Unterschiede zwischen Introvertiertheit und Extrovertiertheit bei hochsensiblen Kindern auf, und ich erkläre Dir, was es mit der Ambivertiertheit auf sich hat.
Am Ende des Artikels findest Du praktische Tipps.
Themen des Beitrags
Definition und Begriffsklärung
Introvertiert
Introvertiert bedeutet, dass jemand nach innen gekehrt ist, sich eher mit sich selbst und dem eigenen Seelenleben beschäftigt.
Extrovertiert
Extrovertiert ist jemand, der mehr nach außen gerichtet und kontaktfreudig ist und sich in sozialen Situationen wohl fühlt.
Eigentlich heißt das extravertiert, aber das hat sich nicht so richtig durchgesetzt, daher werde ich bei extrovertiert bleiben.
Ambivertiert
Ambivertiertheit … ist das gleichzeitige oder schnell wechselnde Auftreten gegensätzlicher Gefühle. Ambivertierte Menschen können gleichzeitig offen, gesellig, impulsiv, aber auch zurückhaltend verschlossen und hochsensibel sein. (Stangl, 2023).
Introvertierte hochsensible Kinder – die Ruhe ist ihr Freund
In der Forschung wird sich auf Elaine Aron gestützt und davon ausgegangen, dass ca. 70 Prozent der hochsensiblen Menschen introvertiert sind.
Hochsensible Personen (HSPler) sind die Stillen, die Zuhörer. Es sind die, die vielleicht wegen ihrer Schüchternheit auffallen, sich zurückhalten und sich viele Gedanken machen. Vom Verhalten her hält sich eine Person mit Hochsensitivität eher am Rand und betrachtet das Geschehen von außen, statt mittendrin zu sein. In der Regel haben hochsensible Menschen ein reiches Innenleben mit vielen Gefühlen und Emotionen, brauchen aber trotzdem viel Ruhe und sind gerne alleine. Wenn ihnen die Welt da draußen oder ihr Umfeld zu laut und zu hell wird, ziehen sie sich mit Vorliebe gerne in ihr Schneckenhaus zurück.
Für Eltern kann es eine große Herausforderung sein, das bzw. diese Bedürfnisse zu akzeptieren. Wir denken, das Kind muss Freunde haben und viel mit ihnen spielen und fröhlich in der Gruppe herumtoben. Grundsätzlich ist das auch so, aber die introvertierten Kinder haben oft nur einen oder zwei Freunde, spielen eher ruhig und sind damit völlig zufrieden.
Während für die meisten Kinder ein Besuch auf der Kirmes ein tolles Erlebnis ist, kann das für Dein introvertiertes hochsensibles Kind eine heftige Überforderung mit viel Stress oder sogar Angst sein.
Oft sind sie von der Persönlichkeit her Tüftler, gehen den Dingen auf den Grund und versuchen mit großer Freude, alles in der Tiefe zu verstehen. Neues ist für sie im Leben häufig eine Herausforderung, sie mögen Struktur, Rituale und den gewohnten Gang.
Sie sind die Beobachter, die am Rand stehen und das Geschehen mit voller Aufmerksamkeit im Fokus haben und analysieren. Aus meiner Arbeit mit Kindern kannte ich einen Jungen, der dafür ein Paradebeispiel war. Als er im Kindergarten war, stand er oft außerhalb des Trubels und hat beobachtet, was die anderen Kinder gemacht haben. Er hat die Situation genau im Blick gehabt und wenn diese sich um ein Spielzeug gestritten haben, hat er die höchste Welle abgewartet, wenn es eigentlich nur noch um den Streit und nicht mehr um das Spielzeug ging, und hat sich dann das Spielzeug genommen, um sich damit in eine Ecke zu verziehen, um in Ruhe damit spielen zu können.
Die Introvertierten haben das Bedürfnis nach Rückzug, um die Reize und Informationen, die auf sie einströmen, zu verarbeiten. Sie beziehen ihre Kraft aus der Ruhe und aus ihrem Inneren.
Wir nehmen sie oft als schüchtern und als „Sensibelchen“ wahr. Sensibilität ist in unserer Gesellschaft nicht unbedingt eine hochgeschätzte Eigenschaft und so heißt es oft: „Stell Dich doch nicht so an!“, oder „Sei doch nicht immer so empfindlich!“
Du kannst Dir sicher denken, was das mit einem Kind macht, das solche Ansagen bekommt: Es bekommt das Gefühl, die Dinge falsch wahrzunehmen und nicht richtig zu sein. Mit erheblichen Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
Extrovertierte hochsensible Kinder – sie mögen die Geselligkeit
Ein deutlich kleinerer Teil der hochsensiblen Personen (HSP) ist extrovertiert. Sie sind in der äußeren Wahrnehmung nach außen gerichtet, haben viel Energie, beziehen ihre Kraft durch Aktionen und begegnungen mit anderen Menschen und wenn sie länger alleine sind, fühlen sie sich nicht gut. Sie können offen auf andere Menschen zugehen und haben viele Kontakte. Im Gegensatz zu den Introvertierten sind sie gerne auch im Mittelpunkt des Geschehens. Für Neues sind sie offen und sie lassen sich schnell begeistern.
Tatsächlich ist es gar nicht so einfach zu erkennen, dass extrovertierte Kinder hochsensibel sind. In unserer Kultur, die sehr nach außen und auf Aktivitäten ausgerichtet ist, fallen sie kaum auf. Aber auch sie sind schneller überreizt und reagieren mit starker Erschöpfung von den Eindrücken, die auf sie einwirken. Dabei neigen sie dazu, ihre Grenzen nicht wahrzunehmen und sich zu überfordern. Dann brauchen sie Eltern oder Bezugspersonen, die ihnen helfen, zur Ruhe zu kommen und die Eindrücke zu verarbeiten.
Das sind auch die Kinder, die oft als „gefühlsstark“ bezeichnet werden und mit einem Wutanfall auf die Überforderung durch die vorangegangenen Impulse reagieren. Der Wutanfall ist ihr Ventil, um die Überforderung abzuwehren.
Bei extrovertierten hochsensiblen Kindern ist es mitunter nicht so einfach zu erkennen, ob sie hochsensibel sind oder ob es sich um ADHS handelt. Dazu gibt es im nächsten Artikel ausführliche Informationen.
Ambivertiert – ein bisschen von beidem
Neben diesen beiden beschriebenen Ausprägungen gibt es eine dritte Form. Sie vereint beide Merkmale in sich. Ambivertierte Menschen brauchen sowohl viel Anregung von außen als auch sehr viele Ruhe. Sie mögen es, sich mit vielen Menschen zu treffen, aktiv zu sein und Neues zu erleben, brauchen zugleich aber sehr viel Ruhe und Rückzug. Manchmal sind diese Wechsel in den Stimmungen sehr schnell und für Außenstehende nicht nachzuvollziehen.
Das sind beispielsweise Erwachsene, die eben noch tanzend und lachend auf der Tanzfläche in einem Club gestanden haben und von jetzt auf gleich in ihrer Stimmung kippen und den Club verlassen. Und alle andere fragen sich verwundert, was denn jetzt los ist. Das innere Maß ist voll, die Reizüberflutung kann nicht mehr reguliert werden und so zieht sich der eben noch ausgelassen fröhliche Mensch zurück in die Stille, um zu verarbeiten. Tut er das nicht, kann es zum bereits beschriebenen Wutanfall kommen.
Diese ständigen gegensätzlichen Wünsche nach Aktivität einerseits und Rückzug andererseits sind eine große Herausforderung, sowohl für den HSP, als auch für die Umwelt. Von ihren Mitmenschen werden sie oft als impulsiv, sprunghaft und möglicherweise als launisch wahrgenommen.
Ich selbst bin ein Ambi. Bei mir wechselt es ständig ab: Mal brauche ich totalen Rückzug, und dann wieder stürze ich mich gerne in den Trubel der Stadt mit all den Menschenmengen. Um danach vollkommen erschöpft zu sein und mich wieder zurückzuziehen. Für mich ist es undenkbar, beispielsweise an zwei Tagen am Wochenende “Programm” zu haben, das überfordert mich völlig. Mitunter ist es ein Drahtseilakt, die richtige Mischung zu finden. Aber ich merke sehr schnell, wann ich meine eigenen Grenzen erreicht oder mich überfordert habe, weil ich dann unausgeglichen bin und entweder wütend oder sehr empfindlich werde.
Tipps für Eltern von hochsensiblen Kindern: Rituale, Regeln und Strukturen
Für alle hochsensible Kinder gilt: Sie brauchen Dich als Mutter oder Vater, um sich selbst zu verstehen und um sich regulieren zu können.
Beobachte Dein Kind, wie es sich nach bestimmten Situationen verhält. Zieht es sich zurück, wird es bockig? Dann kannst Du davon ausgehen, dass Dein Kind Schwierigkeiten hat, die Reize zu verarbeiten.
Rituale, Regeln und Strukturen helfen ihnen, auch wenn das extrovertierte Kind eher dagegen aufbegehrt. Da es selbst oft nicht in der Lage ist, zur Ruhe zu kommen, hilfst Du ihm, indem Du dem Tag eine relativ feste Struktur gibst.
- Plane feste Ruhezeiten ein. Das bedeutet nicht, dass Dein Kind schlafen soll. Es können auch ruhige Beschäftigungen sein wie malen, Musik hören, mit Knete spielen, kuscheln. Hörspiel hören kann auch hilfreich sein, hängt aber von Deinem Kind ab. Manche Kinder puscht das auf, aber das wirst Du wissen, da Du Dein Kind gut kennst.Was immer euch gefällt und euch zur Ruhe bringt, plant es in euren Tagesablauf ein, z.B. nach dem Besuch der Kita.
- Feste Zu-Bett-geh-Rituale sind ganz wichtig für Dein hochsensibles Kind. Am besten ist es, immer den gleichen Ablauf zu haben und abends nichts aufregendes mehr zu veranstalten. Gemeinsam auf dem Sofa kuscheln, den Tag Revue passieren lassen, kleine Massagen, Bücher lesen, so könnt ihr den Tag in Ruhe ausklingen lassen. Das gilt ganz besonders nach einem Tag mit vielen Reizen.
- Rituale sind auch wichtig, wenn Du Dein Kind in die Kita bringst. Achte darauf, dass der Ablauf jeden Tag gleich ist. Das gibt Deinem Kind Sicherheit.
- Regeln sind für HSP-Kinder wichtig, an ihnen können sie sich orientieren. Stellt sie gerne gemeinsam auf. Frag Dein Kind, was wichtig ist und welche Regeln es sich wünscht. Auch im Umgang miteinander.
Verwendete Literatur
Stangl, W. (2023, 11. März). Ambivertiertheit – Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/33900/ambivertiertheit.